Im Juni 2014 hatte der Bundesminister für Justiz eine Arbeitsgruppe zur Reform des Maßnahmenvollzugs eingesetzt. Seit Ende Jänner 2015 liegt der Abschlussbericht der Arbeitsgruppe vor (BMJ-V70301/0061-III 1/2014; Arbeitsgruppe Maßnahmenvollzug Bericht an den Bundesminister für Justiz über die erzielten Ergebnisse). NEUSTART teilt sowohl den darin erstellten Befund zur aktuellen Lage des Maßnahmenvollzugs, als auch die umfangreichen und einschneidenden Empfehlungen zu notwendigen Veränderungen.
Vorschläge
Als kurze, grobe Orientierung wird hier eine Zusammenfassung der aus Sicht von NEUSTART wesentlichsten Inhalte der insgesamt 92 Empfehlungspunkte aus dem Abschlussbericht wiedergegeben:
- strenge Trennung von Maßnahmenvollzug und Strafvollzug; jedenfalls Unterbringung nach § 21 Abs. 1 StGB im Rahmen des Gesundheits- und Sozialsystems der Länder
- vom Beginn der Anhaltung an klare Ausrichtung des Maßnahmenvollzugs auf Behandlung und Betreuung mit dem Ziel einer möglichst frühzeitigen Entlassung
- Case Management durch Bewährungshilfe und Durchführung von Sozialnetzkonferenzen im Rahmen bedingter Nachsicht und bedingter Entlassung
- Einweisung nur bei Gewalt- oder Sexualverbrechen als Anlasstat
- quantitativ und qualitativ ausreichende Nachbetreuungseinrichtungen
- klare Regelung der Kostentragung und Verantwortung (Länder, Sozialversicherungsträger, Gesundheitswesen und Justiz)
- Qualitätsverbesserung bei den Gutachten durch Einführung von Qualitätsstandards, Ausbildungsstandards und Honoraranpassung
- Verbesserung des Rechtsschutzes durch notwendige Verteidigung im Entlassungsverfahren, Etablierung eines Rechtsschutzbeauftragten sowie Anwendung der im Unterbringungsgesetz geregelten Patientenrechte
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Unterschieden wird bei der Maßnahme „Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher“, ob jemand eine mit Strafe bedrohte Handlung (sogenannte Anlasstat) wegen mangelnder Dispositionsfähigkeit schuldlos (§ 21 Abs. 1 StGB) oder schuldhaft (§ 21 Abs. 2 StGB) begangen hat. In beiden Fällen ist – als weitere Voraussetzung – wegen diagnostizierter psychischer Erkrankung die Begehung folgeschwerer mit Strafe bedrohter Handlungen zu befürchten (sogenannte Prognosetat). Im zweiten Fall wird die Maßnahmenunterbringung neben einer Freiheitsstrafe angeordnet. In beiden Fällen erfolgt die Maßnahmenunterbringung auf unbestimmte Dauer, wobei jährlich zu prüfen ist, ob die ursprünglich befürchtete Gefährlichkeit weiter besteht.
Jedenfalls aus folgenden Gründen ist das seit mehr als 40 Jahren bestehende System der Maßnahmenunterbringungen dringend und grundlegend zu erneuern:
- Seit den 1980er Jahren hat sich die Anzahl jener Personen, die in einer Maßnahme nach § 21 StGB untergebracht sind, ungefähr versechsfacht (von 210 Personen am 30.11.1980 auf 1.233 Personen am 1.9.2020). Dies ist im Wesentlichen auf die steigende Zahl eingewiesener Personen (zwischen den Jahren 2000 und 2020 wurden insgesamt 3.246 Personen eingewiesen und 2.504 Personen entlassen, wodurch die Anzahl der angehaltenen Personen in diesem Zeitraum um 742 gestiegen ist) und die zunehmende Anhaltedauer (diese ist zwischen dem Jahr 2000 und dem Jahr 2017 um 55% gestiegen) zurückzuführen (siehe Sicherheitsbericht 2020 Bericht über die Tätigkeit der Strafjustiz Seiten 170ff). In den vergangenen zehn Jahren werden überdies zunehmend Personen wegen minderschwerer Kriminalität in einer Maßnahme untergebracht.
- Rund die Hälfte aller nach § 21 Abs. 1 StGB untergebrachten Personen befanden sich am 1.1.2014 in öffentlichen Krankenanstalten, wofür das Bundesministerium für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz nicht den „günstigen“ Kostenersatz für Sozialversicherungsträger, sondern den „teuren“ Privatpatiententarif zu bezahlen hat.
- Rund zwei Drittel aller nach § 21 Abs. 2 StGB untergebrachten Personen befanden sich am 1.1.2015 nicht in einer dafür ausgestatteten Sonderanstalt, sondern in „allgemeinen“ Justizanstalten zum Vollzug von Freiheitsstrafen.
- Aufbauend auf der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat das deutsche Bundesverfassungsgericht in einer richtungsweisenden Entscheidung (2 BvR 2365/09 vom 4.5.2011) die damals bestehenden gesetzlichen Regelungen zur deutschen Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig erklärt. Den dabei entwickelten Grundsätzen wie insbesondere dem „Abstandsgebot“ (klare Trennung von Straf- und Maßnahmenvollzug sowie Therapieorientierung des Maßnahmenvollzugs) entspricht der österreichische Maßnahmenvollzug nicht.
Der Vollzug von Maßnahmen soll – in Entsprechung des „Abstandsgebots“ – nicht in Justizanstalten, sondern in eigenen therapeutischen Anstalten erfolgen. Die derzeit in § 21 StGB verwendeten diskriminierenden Begriffe „Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher“ und „geistige oder seelische Abartigkeit von höherem Grad“ sollen durch Begriffe wie „therapeutisches Zentrum“ und „schwerwiegende psychische Störung“ ersetzt werden, die mit Artikel 14 der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung vereinbar sind.
Die Therapieorientierung des Maßnahmenvollzugs muss sich vom ersten Tag an (bereits bei einer vorläufigen Anhaltung nach § 429 Abs. 4 StPO) daran orientieren, dass die Betreuung und Behandlung fallbezogen entsprechend den Grundsätzen der einschlägigen Fachdisziplinen (Medizin, Psychologie, Psychotherapie, Sozialarbeit und Pädagogik) erfolgt. Diese Ausrichtung soll neben einem professionellen Übergangsmanagement (mit Case Management durch Bewährungshilfe und Durchführung von Sozialnetzkonferenzen) eine möglichst frühzeitige Entlassung sicherstellen.
Um der Tendenz der zunehmenden Maßnahmeneinweisungen wegen minderschwerer Delikte entgegenzuwirken, sollen mögliche Anlasstaten auf Verbrechen (= Vorsatzdelikte mit mehr als drei Jahren Strafdrohung) eingeschränkt werden. Reine Vermögensdelikte ohne Gewaltanwendung oder Gewaltandrohung sollen (nach wie vor) keine möglichen Anlasstaten sein.
Abgesehen davon, dass eine jeweils regional ausreichende Anzahl an Nachbetreuungseinrichtungen sicherzustellen ist, sind verbindliche Qualitätsstandards einzuführen und bedarfsorientiert passende Wohnformen (stationär mit „24 Stunden Betreuung“ – teilstationär mit regelmäßig aufsuchender Betreuung – ambulant mit Betreuung in eigener Wohnung) zu schaffen, da solche Ressourcen ebenfalls Voraussetzungen für möglichst frühzeitige Entlassungen aus dem Maßnahmenvollzug sind.
Derzeit wird das Justizressort mit den beim Maßnahmenvollzug bestehenden massiven Problemlagen weitgehend alleine gelassen, obwohl es sich um einen Bereich handelt, der viel eher dem Gesundheits- und Sozialwesen zuzuordnen ist. Zu betonen ist in diesem Zusammenhang, dass die Maßnahmenunterbringung keine Sanktionierung gerichtlich strafbaren Verhaltens darstellt, sondern krankheitsbedingten Gefahren vorbeugen soll. Es ist daher zu fordern, dass insbesondere die Länder und Sozialversicherungsträger ihre Verantwortung (vor allem auch finanziell) übernehmen. Alleine mit den derzeit dem Justizressort zur Verfügung stehenden Mitteln werden die dringend notwendigen Verbesserungen nicht zu bewerkstelligen sein.
Der Bericht der Arbeitsgruppe Maßnahmenvollzug nennt als Ursachen für die mitunter mangelnde Qualität forensisch-psychiatrischer und klinisch-psychologischer Gutachten die nicht adäquate Honorierung der Sachverständigen, das Fehlen von Qualitätsstandards, den Mangel an Ausbildungsrichtlinien und das zu geringe Angebot an Qualifizierungsmodulen. Für die Beseitigung dieser Ursachen enthält der Bericht in seinem Kapitel 5.4 detaillierte Vorschläge.
Notwendige Verteidigung ist nach § 61 StPO etwa in der Hauptverhandlung vorgesehen, wenn eine drei Jahre übersteigende Freiheitsstrafe angedroht ist. In Hinblick darauf, dass die Unterbringung in einer Maßnahme immer für unbestimmte Zeit (also im schlimmsten Fall lebenslang) erfolgt und im Durchschnitt fast vier Jahre (Unterbringung nach § 21 Abs. 1 StGB) beziehungsweise deutlich länger als vier Jahre (Unterbringung nach § 21 Abs. 2 StGB) dauert, erscheint auch hier im Entlassungsverfahren eine anwaltliche Vertretung geboten. Von den Personen, die vor dem Jahr 2000 in einer Maßnahme nach § 21 Abs. 1 StGB untergebracht wurden, befanden sich 16% am 1.1.2014 (also für bereits mehr als 14 Jahre) noch immer im Maßnahmenvollzug; für nach § 21 Abs. 2 StGB Untergebrachte beträgt dieser Prozentsatz sogar 21%.
Eine sachlich gebotene Gleichbehandlung mit anderen Unterbringungsformen erfordert auch die Etablierung von Rechtsschutzbeauftragten und Patientenanwält:innen sowie eine Umsetzung der im Unterbringungsgesetz geregelten Patient:innenrechte im Maßnahmenvollzug.
2017 und Anfang 2019 waren Gesetzesentwürfe für ein Maßnahmenreformgesetz in inoffizieller (Vor)begutachtung. Ein Teil dieser Gesetzesmaterie, der Ministeriumsentwurf eines Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetzes 2021 (128/ME XXVII. GP), war Mitte 2021 offiziell zu begutachten. NEUSTART hat zu allen Entwürfen Stellungnahmen abgegeben, in denen die Gesetzesentwürfe grundsätzlich befürwortet wurden (auch wenn darin nicht alle Empfehlungspunkte der eingangs genannten Arbeitsgruppe Maßnahmenvollzug aufgenommen wurden), „weil dadurch wesentlich verbesserte Ergebnisse (insbesondere mittelfristig geringere Unterbringungszahlen bei gleichzeitig erhöhter Betreuungsqualität und verringertem Gefahrenpotential) sowie ein künftig grundrechtskonformer Maßnahmenvollzug zu erwarten sind“. Seither ist jedoch kein weiterer Schritt in der Gesetzeswerdung erfolgt.