Suche
Close this search box.

Strafe: Nicht genügend

Auge um Auge war früher. Heute dürfen Bestrafte im modernen Strafvollzug auf ein Umfeld und Maßnahmen hoffen, die ihre spätere Wiedereingliederung in die Gesellschaft begünstigen. Dennoch gibt es Handlungsbedarf im Umgang mit Verurteilten. Ein Umdenken wäre der Gesellschaft zumutbar und würde Kosten sparen.

Es ist schon wieder was passiert: Dann fällt die Tür ins Schloss. Das Gedankenkarussell dreht sich, du wirst auf eine Tat reduziert, für den Rest des Lebens ist nicht mehr viel Platz. Eine Freiheitsstrafe ist die extremste Form der Missbilligung, die der Staat gegenüber einem Mitglied der Gesellschaft verhängen kann. Es ist ein Bruch, ein schwarzes Loch in jeder Biografie, das soziale Kontakte und Berufschancen frisst. Auch wenn es heute nicht mehr um Vergeltung geht, Strafe bleibt Strafe, und Teile der Gesellschaft sehen lieber eine Politik der Härte gegen über Menschen, die etwas verbrochen haben, als einen konstruktiven Zugang, der auch die Rückkehr in ein straffreies Leben im Blick hat. 

So bleibt der Strafvollzug ein Politikfeld, das der Gesellschaft den Spiegel vorhält, etwa in der Frage, wie wir es mit Minderheiten halten, was wir zur Einhaltung ihrer Rechte tun und wie ernsthaft uns das interessiert. Wer genau hinsieht, erkennt: Es gibt Handlungsbedarf, wenn das Strafvollzugsgesetz erfüllt werden soll, das Resozialisierung als Strafzweck festschreibt. Positive Projekte, die diesem Zweck dienen, gibt es bereits. Aber ist auch der politische Wille gegeben, konsequent in diese Richtung zu gehen? Und: Ist die Gesellschaft überhaupt schon so weit?

Hartes Urteil

Wenn man den Strafvollzug als Gradmesser für die menschenrechtliche Reife einer Gesellschaft betrachtet, käme Österreich im Schulnotensystem nicht über ein Genügend hinaus.

So lautet das harte Urteil des Linzer Strafrechtsprofessors Alois Birklbauer. Die Gefängnisse seien überfüllt, vor allem der Maßnahmenvollzug mit psychisch kranken Rechtsbrecher:innen unterdotiert. Es sei leichter, Geld für die Bewachung lockerzumachen, als für gute Betreuung: „Der Gedanke des harten Wegsperrens ist scheinbar mehrheitsfähiger als der Gedanke des Resozialisierens und der Bildung von Stärken. Das ist ein Trend der Zeit, das muss man leider offen sagen.“ 

Im Strafrecht landen auch Themen, zu deren Lösung man wahrscheinlich in anderen Gesellschaftsbereichen ansetzen müsste. Wenn Jugendliche kriminell werden, hat das oft nicht nur mit schwierigen Familienverhältnissen zu tun, sondern auch mit Problemen in der Bildung. Was soll da eine Herabsetzung der Strafmündigkeit bringen? Und wenn es Probleme in der Integration gibt, die zu Gesetzesverletzungen führen – das betrifft vor allem geflohene Menschen ohne echte Perspektive –, soll ebenfalls Bestrafung und Härte die Antwort sein? Der Anteil der Häftlinge mit nichtösterreichischer Staatsbürgerschaft in Österreichs Gefängnissen liegt seit Mitte der 2010er-Jahre bei gut 50 Prozent. Qualifizierende Ausbildungen sind schwer durchzuführen, weil oft Sprachkenntnisse fehlen. In der Schweiz gab man Menschen ohne Aufenthaltstitel, die man nicht abschieben konnte, einen legalen Status und versuchte, sie zu integrieren, weil die Wahrscheinlichkeit, dass so jemand ohne Perspektiven wieder kriminell wird und als „illegales U-Boot“ untertaucht, sehr hoch ist. Doch mit dieser Politik gewinnt man keine Wähler:innen-stimmen. Ist diese Form der Härte, auch wenn sie mehr schaden sollte als sie bringt, denn gewünscht?

Strafe im Wandel der Zeit

Früher war die Frage, warum wir strafen, nicht so wichtig. Da stand die Härte im Vordergrund: Die Vergeltung, das Abschrecken, das Wegsperren und das Unschädlichmachen. Wer im 19. Jahrhundert auf der Anklagebank Platz nehmen musste, war Willkür ausgeliefert. Folter war ein übliches Mittel, um Geständnisse zu gewinnen. Im „Inquisitionsprozess“ waren Richter und Ankläger ein und dieselbe Person, die Angeklagten hatten kaum Verteidigungsrechte. Das Verfahren war geheim. Außerdem waren Richter nicht unabhängig und durften keine freie Beweiswürdigung ausüben. Häftlinge, die mit der Todesstrafe oder lebenslangem Kerker zu rechnen hatten, waren laut Strafgesetz „in Eisen an den Füßen, oder auch an Händen“ zu halten und „an den Stein oder Ring anzuketten.“ Bis 1868 gab es in der Habsburgermonarchie Leibstrafen und öffentliche Hinrichtungen.

Die Reformen im Sinne von Fairness und Menschlichkeit, die Aufklärer:innen wie Cesare Beccaria forderten, setzten sich in Österreich erst mit Verspätung durch. Seitdem ist im Hinblick auf die Wahrung von Täter:innenrechten und die Erfüllung humaner Strafzwecke viel passiert. Das österreichische Strafvollzugsgesetz von 1969 schrieb erstmals das Ziel der Resozialisierung fest. Die Ressourcen für Bildung und psychologische Betreuung wurden aufgestockt. Zahlreiche Alternativen zur Freiheitstrafe wurden seitdem ausgebaut: die Bewährungshilfe für Erwachsene, der Tatausgleich, die gemeinnützigen Leistungen, die Fußfessel im Jahr 2010, die Sozialnetzkonferenzen 2014. Auch sozialpädagogische Programme für Täter:innen, die etwa durch Radikalisierung, Verhetzung oder Wiederbetätigung mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, wurden entwickelt. Sind Härte und Abschreckung immer noch das, was die Gesellschaft will? Birklbauer bezweifelt das.

Sinnvolle Strafen

Die Bevölkerung sei viel weniger strafwütig, als behauptet werde. Man könne sie von sinnvollen Dingen überzeugen und wisse aus Studien, dass es vielen schon genüge, wenn der Staat auf eine Straftat reagiere. Das brauche es auch, „aber ob das jetzt ein oder drei Jahre sind, oder ob jemand nach der Hälfte der Zeit entlassen wird, ist den Menschen letztendlich gleichgültig.“ Ein Blick in die Praxis liefert ein Beispiel. 2008 gab es in Österreich eine Gesetzesnovelle, die eine frühzeitige bedingte Entlassung von lebenslang Verurteilten ermöglichte, auf Generalprävention verzichtete und den Blick allein auf die Täter:innen richtete, nicht auf das, was die Gesellschaft angeblich denkt. 

Ein Forschungsprojekt der Universität Linz zeigt, dass die Gerichte die neuen gesetzlichen Möglichkeiten auch umsetzen. Während 15 Jahre nach Strafantritt kaum jemand bereits wieder frei war, lag dieser Anteil nach 30 Jahren bei fünf Sechsteln. Jeder Fall wurde genau geprüft, und es entstand keine Gefährdung. Zugleich tendierte die Rückfallrate gegen Null. Also ein Gewinn für beide Seiten, erreicht durch mutige Politik. Täter:innen kamen unter Auflagen früher frei, erhielten dafür eine Perspektive – und die Gesellschaft sparte sich Haftkosten. Auch der Gedanke, dass Strafen einen Ausgleich zwischen Täter:innen und Gesellschaft bringen sollen, trat in den Hintergrund. Müsste man also das Strafverständnis zwischen Täter:innen und „Gesellschaft“ neu kalibrieren, um gute Beispiele zur Regel zu machen und nicht zu heimlich vollführten Ausnahmen? Das würde wohl eine Debatte voraussetzen, die Mut und Ehrlichkeit bräuchte.

Ein System ohne Strafen wäre für Opfer schwer auszuhalten. Aber auf die reine Übelszufügung sollte weitgehend verzichtet werden.

Strafe neu denken

Genau das fordert der ehemalige deutsche Gefängnisdirektor und Rechtsanwalt Thomas Galli. Geht es nach ihm, soll Strafe neu gedacht werden, damit sich ehemalige Häftlinge, sobald sie wieder in Freiheit sind, wieder an die Regeln halten wollen und können. Denn das Gefängnis, wie es momentan gestaltet sei, wirke rückfallerhöhend. Man bestrafe mit der Gießkanne und es fehle an Möglichkeiten, individuell mit Menschen zu arbeiten, obwohl es ganz unterschiedliche Hintergründe und Lebensbedingungen seien, die zu einer Straffälligkeit führen. 

Galli sieht dabei ein grundlegendes Problem. Denn: Solange Vergeltung und Übelszufügung das Wesen von Kriminalstrafen blieben, könne eine Resozialisierung gar nicht ernsthaft angestrebt, geschweige denn erreicht werden. „Ein abschreckender Charakter von Strafen hat auch etwas Positives“, gesteht Galli zu, „und ich glaube, ein System ohne Strafen wäre für Opfer schwer auszuhalten. Aber auf die reine Übelszufügung sollte weitgehend verzichtet werden. Wir sollten Wege finden, in denen der Strafgedanke ein Stück weit in den Hintergrund tritt und die anderen Punkte in den Vordergrund.“ Einer seiner Mandanten war vorbestraft und musste wegen Schwarzfahrens ins Gefängnis. Er durfte nach zwei Jahren frühzeitig wieder heraus, um das Arbeitsangebot einer Firma anzunehmen, das sonst weg gewesen wäre. 

Deshalb stimmte das Gericht einer vorzeitigen Entlassung auf Bewährung zu. „Das ist eine tolle Chance auf eine Wende“, sagt Galli, „da bin ich überzeugt, dass er nicht wieder straffällig wird.“ Auch Ausgleichverfahren zwischen Täter:innen und Opfern würden eine Resozialisierung begünstigen. In Zukunft, plädiert Galli, sollen Strafinterventionen möglichst in die Realität eingebettet sein, damit Straffällige lernen, sich in einem „normalen Umfeld“ zu bewegen. Solche neuen Wege („Ich bin überzeugt, dass es in diese Richtung geht.“) seien kein Wohlfühlprogramm für Straftäter:innen. Es gehe vielmehr darum, Ressourcen sinnvoller einzusetzen und dabei die Menschenrechte zu wahren. Resozialisierung sei aber nicht nebenbei und kostenlos zu bekommen.

Paradox der Strafe

Was bleibt, ist das (unlösbare?) Paradox der Kriminalstrafe in seiner strengsten Form. Jemandem die Freiheit zu entziehen, mit allen negativen Folgen, die damit zusammenhängen, vergrößert den gefühlten und erlebten Abstand zur „normalen“ Gesellschaft – die natürlich kein Bild davon hat, wie es hinter Gittern wirklich zugeht. Was in Gefängnisdokus im Privatfernsehen zu sehen ist, bleibt mit Realitätselementen angereicherter Häfnkitsch, der der Wirklichkeit nicht gerecht wird. Im wahren Leben bleiben Gefängnistüren oft 23 Stunden am Tag geschlossen. Einzelzellen gibt es nicht überall.

Im wahren Leben sind kleine Suchtkriminelle, wenn sie nach einer Haft ohne Betreuung auf die Straße gesetzt werden, schnell wieder im Gefängnis und starten Knastkarrieren. Man kennt sich schon. Im wahren Leben wird Arbeit in Haft schlecht bezahlt. Da kommen Inhaftierte oft aus prekären und armen Milieus, die sie ihr Leben lang nicht verlassen. Umso wichtiger wäre es, Strafe nicht als gegeben hinzunehmen: Das Für und Wider auf die Waagschale Justitias zu legen, sich an das höhere Ziel der Wiedereingliederung zu erinnern und in Projekte zu investieren, die nicht dem antiken Impuls nach Strafhärte gehorchen, sondern auf die Menschen und das Delikt zugeschnitten sind. So kann man zu dem Schluss kommen: Strafe muss sein, zumindest für die schweren Fälle. Aber muss es wirklich diese Strafe sein?

Über die/den Autor:in
Stefan Müller

Unser Gastautor Stefan Müller ist Historiker, Journalist und Autor. Er hat unter anderem für „Die Zeit“ und „Die Presse“ geschrieben und mehrere Sachbücher sowie wissenschaftliche Publikationen verfasst.

Mehr von mir lesen >>