Gemeinsam Gefahren erkennen und entschärfen
Fallanalysen spektakulärer Fälle haben immer wieder das Ergebnis gebracht, dass ein besserer Austausch von risikorelevanten Informationen zwischen den beteiligten Institutionen sinnvoll gewesen wäre. Im besten Fall hätte eine solche Zusammenarbeit sogar zur Verhinderung schwerer Straftaten beitragen können.
Seit Anfang 2020 gibt es Sicherheitspolizeiliche Fallkonferenzen in Hochrisikofällen. Diese Fallkonferenzen werden von der Sicherheitsbehörde einberufen und bringen alle beteiligten Institutionen an einen Tisch. Dabei werden Schutzmaßnahmen für gefährdete Personen abgestimmt. Besprochen wurden bisher in erster Linie Hochrisikofälle aus dem Bereich häuslicher Gewalt. Diese Form von Fallkonferenzen betrifft in erster Linie die NEUSTART Leistungsbereiche Gewaltpräventionsberatung und Bewährungshilfe.
Fallkonferenzen nun auch im Rahmen des „Anti-Terror-Pakets“
Am 1.12.2021 wurden diese Fallkonferenzen um die „Fallkonferenz Staatsschutz“ und am 1.1.2022 zusätzlich um zwei Formen gerichtlicher Fallkonferenzen erweitert. Diese neuen Typen von Fallkonferenzen sind Teil des sogenannten „Anti-Terror-Pakets“ und haben die Gruppe radikalisierter Personen im Fokus.
Fallkonferenzen Staatsschutz dienen der Verhinderung verfassungsgefährdender Angriffe und können von der Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN) oder von den für Staatsschutz zuständigen Einheiten der Landespolizeidirektionen einberufen werden. Verfassungsgefährdende Angriffe sind Bedrohungen durch bestimmte Deliktsbegehungen, wie etwa der Begehung von Terrordelikten, staatsfeindlichen Delikten oder der Wiederbetätigung nach dem Verbotsgesetz. Die Anregung einer Fallkonferenz Staatsschutz kann auch von psychosozial betreuenden Organisationen kommen – die Einberufung ist den Staatsschutzbehörden vorbehalten.
Diese Form der Fallkonferenz verfolgt das Ziel, Maßnahmen zur Verhinderung verfassungsgefährdender Angriffe mit Behörden und Einrichtungen, die in der Deradikalisierung, Extremismusprävention und sozialen Integration tätig sind, zu erarbeiten. Die Teilnehmer:innen müssen die ausgetauschten Informationen vertraulich behandeln.
Gerichtliche Fallkonferenzen werden von Gerichten einberufen. Diese Fallkonferenzen sind in den folgenden beiden Einsatzbereichen anzuwenden:
1. zuerst vor jeder Entscheidung über eine bedingte Entlassung aus der Strafhaft wegen bestimmter Delikte (insbesondere terroristisch, staatsfeindlich, Verbotsgesetz) und danach,
2. wenn im Rahmen einer solchen bedingten Entlassung gerichtliche Aufsicht angeordnet wird.
Gerichtliche Aufsicht (§ 52b StGB) ist ebenfalls ein neues Instrument, das die Vollzugsgerichte seit 1.1.2022 dann anzuwenden haben, wenn eine intensivere Überwachung nach der bedingten Entlassung wegen bestimmter Delikte (insbesondere terroristisch, staatsfeindlich, Verbotsgesetz) spezialpräventiv erforderlich ist. Während einer gerichtlichen Aufsicht muss das Vollzugsgericht zumindest eine Fallkonferenz abhalten.
Die gerichtlichen Fallkonferenzen zielen darauf ab, in besonders heiklen Deliktsbereichen möglichst breite Entscheidungsgrundlagen hinsichtlich spezialpräventiver Erfordernisse zu haben und erforderliche Maßnahmen gut zu koordinieren. Bereits für die Entscheidung über eine bedingte Entlassung soll das Vollzugsgericht ein möglichst vollständiges Bild über Maßnahmen haben, die eine Annahme rechtfertigen können, dass „der Verurteilte durch die bedingte Entlassung nicht weniger, als durch die weitere Verbüßung der Strafe von der Begehung strafbarer Handlungen abgehalten wird“ (§ 46 Abs. 1 StGB). Mit einer bedingten Entlassung kann das Vollzugsgericht auch gerichtliche Aufsicht anordnen, während der in zumindest einer weiteren Fallkonferenz die Überprüfung und Koordination bereits angeordneter Maßnahmen (insbesondere Weisungen) sowie ein Austausch bezüglich möglicher Ausweitungen oder auch Einschränkungen der Maßnahmen stattfinden soll.
Interdisziplinäre Abstimmung als Chance
NEUSTART begrüßt die gesetzlichen Möglichkeiten von Fallkonferenzen als erfolgversprechendes Präventionsinstrument. Es ist eine Neuerung, dass zwischen unterschiedlichen Professionen, wie einerseits Sicherheitsbehörden und Justiz und auf der anderen Seite betreuenden Einrichtungen, ein Austausch über Hochrisikofälle möglich ist. Behörden dürfen nun Informationen an betreuende Einrichtungen weitergeben, die diese zwar vertraulich behandeln müssen, aber auch für ihre Risikoeinschätzung verwerten können. Die bisherigen Erfahrungen mit Fallkonferenzen haben gezeigt, dass dieses Instrument gut genutzt wird und eine gute Grundlage für die Entwicklung wirkungsvoller Schutzmaßnahmen für potenzielle Opfer leisten kann.
NEUSTART ist sich der Sensibilität eines solchen Austauschs, unter dem Gesichtspunkt des durch Verschwiegenheitspflichten geschützten Vertrauensverhältnisses zu eigenen Klient:innen, bewusst. Es kommt dabei auf eine Abwägung zwischen Geheimhaltungsinteressen, die für das Vertrauensverhältnis erforderlich sind, und einer zur Vermeidung weiterer Delinquenz notwendigen Informationsweitergabe an. Gemeinsam sollen die richtigen Maßnahmen entwickelt werden: Unterstützung zur Vermeidung von Straftaten, wo es möglich ist, aber auch Kontrolle und repressive Maßnahmen, wo dies notwendig ist.