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„Es gibt ein Leben nach der Haft“

Sabine Matejka ist Präsidentin der Vereinigung der österreichischen Richter:innen und spricht mit NEUSTART Pressesprecher Thomas Marecek über den Zweck von Strafen, die Ausbildung der Richter:innen und die öffentliche Auseinandersetzung mit Kriminalpolitik.

NEUSTART: Frau Präsidentin, der Blick über die Grenzen Österreichs zeigt, dass der Umgang mit der Richterschaft Gradmesser einer funktionierenden Demokratie ist. Was braucht die dritte Staatsgewalt, um ihre Rolle in einer Demokratie gut auszufüllen?

Sabine Matejka: Die Gerichtsbarkeit als maßgebliches Element einer funktionierenden Demokratie braucht eine unabhängige, gut ausgebildete Richterschaft und sie braucht entsprechende Rahmenbedingungen. Der beste Richter kann seine Aufgaben nicht erfüllen, wenn es an Ressourcen mangelt. Wir haben in Österreich ein funktionierendes Auswahlverfahren von Richter:innen und wir haben ein sehr gutes Aus- und Fortbildungsprogramm. Wesentlich ist auch das starke Selbstverständnis innerhalb der Richterschaft, das unsere Unabhängigkeit wahrt. Es ist wichtig, dass man Richter:innen auswählt, die diese Unabhängigkeit leben, notfalls verteidigen und gegen Einflussnahmen auftreten. Was wir in letzter Zeit erlebt haben, sind Versuche politischer Einflussnahme, insbesondere bei der Ernennung von Richter:innen in hochrangigen Positionen. Das sind bedenkliche Entwicklungen, die wir so offenkundig in Österreich noch nicht gesehen haben. Da gilt es, rechtzeitig gegenzusteuern und Maßnahmen zu setzen, damit das verhindert wird. Es braucht auch ein Umdenken seitens der Politik. Hier wurde eine Grenze überschritten, denn derartige Eingriffe in die Gerichtsbarkeit sind unzulässig.

NEUSTART: Schadet diese aktuelle Diskussion der Justiz oder ist es gut, dass sie endlich geführt wird?

Sabine Matejka: Einerseits ist sie nachteilig, weil sie das Vertrauen in die Arbeit der Justiz schädigt. Andererseits ist es positiv, dass Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt wird und somit die Chance für Reformen real ist. Wir haben schon seit vielen Jahren Reformen gefordert. Nun ist aufgrund der jüngsten Ereignisse die mediale Öffentlichkeit da und damit auch ein gewisser Druck für die Politik, Reformen durchzusetzen.

NEUSTART: Sie haben angesprochen, dass die Richterschaft eine ausreichende Mittelausstattung benötigt. Wie ist Ihr derzeitiger Befund?

Sabine Matejka: Wir haben in den letzten Jahren wieder bessere Justizbudgets. Die sehr prekäre Situation hat sich etwas gebessert. Es gäbe auch die Mittel für eine bessere Personalausstattung. Womit wir allerdings kämpfen, sind die Pensionsabgänge. Wir haben Probleme, nachzubesetzen – nicht nur im richterlichen Bereich und bei den Staatsanwälten. Uns fehlen ausreichend ausgebildete ernennungsfähige Richteramtsanwärter:innen. Also nehmen wir verstärkt wieder externe Bewerber:innen auf – aus der Rechtsanwaltschaft zum Beispiel. Hier liegen momentan eher die Probleme als beim Budget, denn da hat es Verbesserungen gegeben. Ich hoffe, dass das so bleibt, denn der Staat ist mit hohen Kosten im Zuge der Corona-Krise konfrontiert. Und da besteht die Befürchtung, dass im öffentlichen Bereich gespart wird. Im Moment ist das noch nicht so.

NEUSTART: Teil der Richterausbildung sind Praktika – zum Beispiel bei Neustart. Was bewirkt dieser Perspektivenwechsel?

Sabine Matejka: Diese praktischen Ausbildungsstationen bei der Bewährungshilfe oder bei Opferschutzeinrichtungen sind extrem wichtig, weil man den jungen Kolleg:innen einen Blick auf die andere Seite ermöglicht. Als Richter:in sieht man immer nur einen Teil des Bildes: das, was sich im Verhandlungssaal abspielt und was im Akt steht. Vieles kommt aber weder da noch dort zur Sprache. Erst einmal zu verstehen, was im Hintergrund abläuft, welche Prozesse damit verbunden sind, welche Emotionen – sei es bei Opfern, sei es bei Täter:innen -, das ist eine ganz wichtige Erfahrung. Ich höre immer wieder von den jungen Kolleg:innen, dass sie das als sehr bereichernd empfinden.

NEUSTART: Als Richter:in greift man häufig in den höchstpersönlichen Lebensbereich seiner Mitmenschen ein. Wie werden die Anwärter:innen darauf geschult?

Sabine Matejka: Diese Sensibilisierung, was die Eingriffe in den höchstpersönlichen Lebensbereich betrifft, erfolgt in der praktischen Ausbildung. Das kann man nicht theoretisch vermitteln, sondern die Ausbildung bei erfahrenen Kolleg:innen gibt das mit. Als Richter:in ist man gerade was die Lebensverhältnisse anderer Menschen betrifft und die Auswirkungen auf ihr Verhalten einem ständigen Lernprozess ausgesetzt. Deshalb legen wir schon bei der Auswahl viel Wert auf Empathie und Reflexionsfähigkeit.

NEUSTART: Aktuell findet in den Medien eine Debatte über Strafvollzug und Untersuchungshaft statt. Sitzen in Österreich zu viele Menschen im Gefängnis?

Sabine Matejka: Die Diskussion schwankt häufig. Derzeit wird kritisiert, dass sich zu viele Menschen in Haft oder zu lange in U-Haft befinden. Andererseits wird oft kritisiert, dass manche Verdächtige nicht in Haft genommen werden oder dass jemand früher entlassen wird. Die Diskussion ist immer von aktuellen Ereignissen geprägt. Grundsätzlich gibt es aber den Standpunkt bei allen, die sich inhaltlich damit auseinandersetzen, dass Haft nur die ultima ratio ist und die Dauer der Haft und die Frage, ob es sinnvoll ist, jemanden in Haft zu nehmen, eine ganz wichtige Frage ist. Die Antwort auf diese Frage entspricht nicht immer der gesellschaftlichen Erwartungshaltung. Wegsperren vermittelt Sicherheit – ist ein Täter nicht in Freiheit, schützt das die Gesellschaft. Das ist aber zu kurz gedacht, denn jede Haft hat einmal ein Ende. Die meisten Täter:innen kommen wieder in Freiheit und es gibt ein Leben nach der Haft. Dass eine lange Freiheitsstrafe nicht dazu beiträgt, dass diese Menschen reintegriert werden und nicht rückfällig werden, wird in der öffentlichen Diskussion leider oft weniger beachtet.

NEUSTART: Auch der Zweck strafrechtlicher Sanktionen – insbesondere der Haft – wird öffentlich wenig diskutiert…

Sabine Matejka: Ja, und bei dieser Frage handelt es sich immer um eine Abwägung. Auf der einen Seite steht der Sanktionsgedanke, der Ausgleich für die Tat und den Schaden und natürlich die Interessen des Opfers. Auf der anderen Seite steht das gesellschaftliche Ziel aus dem Täter einen Nicht-Täter zu machen, also dass er nicht wieder straffällig wird und die Gesellschaft nicht noch einmal schädigt. Das sind die Pole zwischen denen wir uns bewegen. Die Frage, welche Strafe und welches Strafausmaß verhängt wird, ist eine im Einzelfall sehr schwierige Abwägung, bei der die jeweilige Persönlichkeit und die Umstände der Tat miteinbezogen werden. In der politischen Diskussion wird das oft sehr pauschal betrachtet und wenig auf die sehr diversen Fallkonstellationen eingegangen.

NEUSTART: Für eine differenzierte politische Auseinandersetzung steht das Netzwerk Kriminalpolitik – eine informelle Plattform von Organisationen und Einrichtungen im Justizumfeld. Die Richtervereinigung ist auch Mitglied. Wie findet da der Diskurs statt?

Sabine Matejka: Wir versuchen einen Gegenpol zu der tagespolitischen Diskussion zu setzen, in der sehr anlassbezogen argumentiert wird. Wir wollen in diesen Diskurs die Fachexpertise einbringen – zum Beispiel in Bereichen, wo gerade Reformen anstehen. Aktuell widmen wir uns den Themen Korruption, Gewaltprävention und Maßnahmenvollzug….

NEUSTART: …dessen Reform auch schon lange ansteht….

Sabine Matejka: Leider. Psychische Krankheit ist ein Thema, bei dem man auch als Gesellschaft gerne wegschaut, damit möchte man nicht konfrontiert werden. Der Umgang mit psychisch Kranken ist kein sehr populäres Thema für die Politik und wird daher nicht prioritär behandelt. Aber es wird zunehmend zu einem Problem und die Lösung kann nicht sein, dass wir am Ende – nachdem etwas passiert ist – alle wegsperren und im schlimmsten Fall ohne geeignete Therapie. Man müsste schon viel früher ansetzen und psychisch kranken Menschen mehr Angebote machen, um zu verhindern, dass sie gefährlich werden und eine Straftat begehen. Da gibt es ganz große Mängel im System. Das betrifft nicht nur die Justiz, auch das Gesundheitswesen und die gesellschaftliche Akzeptanz, dass entsprechende Angebote Geld kosten dürfen. Das sehe ich als großes gesellschaftliches – nicht nur kriminalpolitisches – Problem und das harrt nach wie vor einer Lösung.

NEUSTART: Ein weiteres gesellschaftliches Problem hat uns die Covid-Pandemie verdeutlicht. In manchen Bereichen scheinen die Fronten verhärtet, immer öfter prallen unvereinbare Positionen aufeinander. Was kann die Richterschaft zu einem gelingenden Miteinander beitragen?

Sabine Matejka: Die Gerichte kommen in diesen Konflikten erst sehr spät ins Spiel. In Zeiten, in denen es umstrittene Entscheidungen gibt, ist es umso wichtiger, dass Entscheidungen der Gerichte – bis hinauf zum Verfassungsgerichtshof – erklärt werden – und zwar in einer für Nicht-Jurist:innen verständlichen Sprache. Das heißt nicht, dass alle Leute damit einverstanden sein werden, aber man setzt einen ersten Schritt, um Entscheidungen verstehen und nachzuvollziehen zu können. Im Zivilverfahren können wir auch versuchen, den Konflikt zu bereinigen. Ein Urteil ist ja nicht immer die beste Lösung, oft gibt es auch andere Möglichkeiten. Da können wir Richter:innen einen Beitrag leisten: einzelfallbezogen und als Teil unserer täglichen Arbeit.

Über die/den Autor:in

Thomas Marecek leitet die Kommunikation bei NEUSTART

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