Die vergangenen beiden Jahre haben es uns wieder vor Augen geführt – bei aufgeheizter Stimmung überschreiten Menschen die Grenzen der Meinungsfreiheit.
Sie beschimpfen einander, drohen oder rufen gar zu Gewalt auf. Was schon in Folge der Migrationsbewegung 2015 zu beobachten war, stellt sich auch im Zusammenhang mit der COVID-Pandemie ein. Adressaten von Hassbotschaften und Gewaltaufrufen waren diesmal vermehrt Vertreter:innen von Politik, Wissenschaft und Medizin.
Die Ursachen sind vielfältig
Verunsicherung löst den Wunsch nach Sicherheit und Klarheit aus. Beides ist bei einer Pandemie schwer herstellbar. Menschen sind empfänglicher für Fake News oder Verschwörungstheorien. Unser Bestreben nach Zugehörigkeit und Algorithmen von Social Media Plattformen führen dazu, dass sich die meisten Menschen in Filterblasen bewegen, in denen sich letztlich ähnlich denkende Menschen gegenseitig in ihren Meinungen bestätigen. Wenn zu Gewalt gegenüber Andersdenkenen aufgerufen wird, ist die Grenze des Strafrechts überschritten.
Für uns war daher schnell ersichtlich, dass das Programm „Dialog statt Hass“, das NEUSTART seit 2019 bei Zuweisungen wegen Verhetzung anwendet, auch für die oben erwähnten Straftaten passend ist. Letztlich geht es strafrechtlich nicht um die Frage, welchen Nachrichten jemand glaubt, sondern, ob die eigene Meinung darüber ohne Gewalt bzw. Androhung dieser zum Ausdruck gebracht werden kann.
Es braucht die Auseinandersetzung mit dem eigenen Handeln und den Auslösern. Ein Perspektivenwechsel bzw. Empathie für das Opfer sind wesentlich, um das eigene Verhalten zu reflektieren. Das Unrechtsbewusstsein, das Wissen um Mechanismen, die dazu beitragen, sich im Netz anders zu äußern, als im direkten Meinungsstreit sowie das konkrete Üben der freien Meinungsäußerung im Netz, kann im gemeinsamen Austausch besser als im Strafverfahren erreicht werden. Hierzu gehört auch wesentlich die Vermittlung der notwendigen Medienkompetenz.
Pädagogische Rundgänge in der Gedenkstätte des KZ Dachau
Der Förderung des Unrechtsbewusstseins und der Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten dienen auch pädagogische Rundgänge in der Gedenkstätte des KZ Dachau. Vor allem Jugendliche und junge Erwachsenen, die nach § 3g Verbotsgesetz angezeigt werden, können in Verbindung mit einer (diversionellen) Bewährungshilfe zugewiesen werden.
Angelehnt an die bestehenden pädagogischen Rundgänge in der Gedenkstätte des KZ Mauthausen wurde in Tirol und Vorarlberg eine Zusammenarbeit mit dem ökumenischen Besuchsdienst der Gedenkstätte des KZ Dachau vereinbart.
Die dreistündige Führung vermittelt die Tragweite des NS Regimes durch den authentischen Ort, sowie die diversen autobiographischen Berichte.
Dadurch können die Klient:innen Bezüge zu Rassismus, Diskriminierung, Verhetzung, politischer Verfolgung, dem Fehlen von freier Meinungsäußerung und anderen Phänomenen herstellen, die auch heute eine Gefahr für Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie sind. Die Weisung zur Teilnahme an einem der Einzelrundgänge kann auch in Verbindung mit dem Programm „Dialog statt Hass“ ausgesprochen werden.