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Egal ob wiederherstellend oder parallel – Gerechtigkeit ist gefragt!

Der 22. Februar wird traditionell in Europa als Tag der Kriminalitätsopfer begangen. Kann der Wunsch nach Gerechtigkeit den Betroffenen tatsächlich erfüllt werden?

Wer Opfer einer Straftat geworden ist, wünscht sich dennoch so etwas wie Gerechtigkeit oder zumindest eine Anerkennung des Geschehens als Unrecht.

Schnulzige Liebeslieder machen sich besser im Englischen – und dasselbe gilt für Ausführungen über Gerechtigkeit. Während im englischsprachigen Raum hemmungslos über „justice“ diskutiert wird, wird der Diskurs im deutschsprachigen Raum abgestoppt mit dem Argument, Gerechtigkeit gäbe es nicht – das lerne jedes Kind schon in einer elementaren Bildungseinrichtung.

Wer Opfer einer Straftat geworden ist, wünscht sich dennoch so etwas wie Gerechtigkeit oder zumindest eine Anerkennung des Geschehens als Unrecht.

Restorative Justice

„Restorative Justice“ ist bereits ein „Klassiker“ und allgemein bekannt: Übersetzt wird es oft mit „wiederherstellende Gerechtigkeit“. Es handelt sich dabei um ein Konzept der Strafrechtspflege, bei dem der Fokus auf der Wiedergutmachung des Schadens und der Heilung von Beziehungen zwischen Täter:in, Opfer und der Gemeinschaft liegt, anstatt nur auf der Bestrafung der Tatperson. Ziel ist es, die Verantwortlichkeit von Täter:innen zu fördern, den Opfern die Möglichkeit zu geben, gehört zu werden, und gleichzeitig zu versuchen, ein intaktes soziales Gefüge wiederherzustellen. Howard Zehr entwickelte das Konzept maßgeblich in den 1970er Jahren.

NEUSTART setzt dieses Konzept etwa im Tatausgleich um. Beschuldigte und Opfer werden von NEUSTART-Mitarbeiter:innen professionell begleitet, die Viktimisierung aufzuarbeiten und individuelle Wege zu finden, das Unrecht anzuerkennen, wiedergutzumachen und neue Wege in die Zukunft zu finden. In einem Modellversuch findet der Ansatz jetzt auch Anwendung außerhalb der Diversion und sogar nach der Rechtskraft eines strafgerichtlichen Urteils.

Parallel Justice

Das Konzept der „Parallel Justice“ wurde von Susan Herman in den frühen 2000er Jahren entwickelt und stellt einen Perspektivwechsel im Umgang mit Opfern von Straftaten dar, indem sie betont, dass das klassische strafrechtliche System stark auf die Täter fokussiert ist, während die Bedürfnisse der Opfer oft zu kurz kommen. Sie schlägt vor, dass Gerechtigkeit für Opfer ein eigenständiges Ziel wird, und dass Täter:innen- und Opfergerechtigkeit entkoppelt werden. Die Unterstützung von Kriminalitätsopfern soll die Betroffenen nicht auf eine Rolle als schwache, hilfsbedürftige Menschen festlegen, da dies das Risiko einer erneuten Viktimisierung erhöht. Stattdessen sollte der Fokus auf der Stärkung der Resilienz und der Prävention von wiederholter Viktimisierung liegen.

Bei NEUSTART stehen in der Prozessbegleitung die Rechte und Bedarfe der Betroffenen im Mittelpunkt. Ziel ist, die Belastungen der Betroffenen zu minimieren und jede Form weiterer Viktimisierung oder Traumatisierung zu verhindern. 

„Injustice anywhere is a threat to justive everywhere.“ – Martin Luther King, Jr.

Transformative Justice

Das Konzept der transformative justice begann in den 1980er und 1990er Jahren in sozialen Bewegungen in den USA, insbesondere in Gemeinschaften von People of Color und feministischen Kreisen, an Bedeutung zu gewinnen. Es entstand als Reaktion auf die Unzulänglichkeiten des traditionellen Strafrechtssystems, insbesondere hinsichtlich seiner mangelnden Berücksichtigung von Ungerechtigkeiten wie Rassismus, Armut und Geschlechterdiskriminierung sowie seiner Neigung, mehr zu bestrafen als sozialen Frieden wiederherzustellen. Das Konzept nahm jedoch erst in den 2000er Jahren eine klarere Form an, als es von Aktivisten und Theoretikern wie Medea Benjamin, Ruth Wilson Gilmore und anderen in verschiedenen Artikeln und Projekten formuliert und verbreitet wurde.

Bei der Transformative Justice geht es nicht nur um die Lösung von Konflikten zwischen Einzelpersonen, sondern auch um das Erkennen und Ansprechen von strukturellen Ungerechtigkeiten und sozialen Bedingungen, die diese Konflikte begünstigen. Transformative Gerechtigkeit berücksichtigt, dass viele Konflikte und Verletzungen nicht isoliert, sondern als Teil eines größeren sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kontextes existieren.

Bei der Thematik der Häuslichen Gewalt wird beispielsweise bei NEUSTART der gesamtgesellschaftliche Kontext mitberücksichtigt. Das Angebot der Gewaltpräventionsberatung sieht sich nicht nur als eine Pflicht für einzelne Gefährder:innen, sondern als eine langfristige, nachhaltige Gesamtinvestition in eine gewaltfreie Gesellschaft.

Denn: “Injustice anywhere is a threat to justice everywhere.” — Martin Luther King, Jr.

Über die/den Autor:in

In der Leitung Sozialarbeit zuständig für den Themenkomplex häusliche Gewalt, die Gewaltpräventionsberatung, den elektronisch überwachten Hausarrest, die Prozessbegleitung und den Saftladen.

Nebenberuflich Lektorin an der Sigmund-Freud-Universität und Trainerin, unter anderem in der Fortbildung zur juristischen Prozessbegleitung.
Vor NEUSTART wissenschaftlich und im Opferschutz tätig.

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