Wie hat Sie Ihr beruflicher und privater Weg zu NEUSTART geführt?
Als ich von 1973 bis 1975 die Lehranstalt für Gehobene Sozialberufe in Wien besuchte, absolvierte ich ein Langzeitpraktikum in der damaligen Strafanstalt Favoriten („10erl“) und im von der Bewährungshilfe betriebenen „Club Change“, in dem drogenabhängige Probanden betreut wurden. Der für den Club zuständige Sozialarbeiter animierte mich, als Bewährungshelfer zu arbeiten. Ich nahm für einige Monate jedoch ein Angebot des Heimes „Stadt des Kindes“ an, dort als Erzieher zu arbeiten und wechselte erst im Herbst 1976 zur Bewährungshilfe, zumal ich damals bereits neben der Arbeit Jus studierte und ich für mich bei der Justiz mehr Möglichkeiten sah (Bewährungshilfe, Strafvollzug, Richter). Ich wurde gleich als Verbindungsbewährungshelfer zur inzwischen gegründeten Sonderanstalt Favoriten für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher (das frühere „10erl“) eingesetzt und leistete wegen meiner Vergangenheit als Erzieher Wochenenddienste in zwei Bewährungshilfeheimen. Ich betreute vorwiegend alkoholabhängige, aber auch andere aus den Maßnahmen nach den §§ 21 und 23 StGB entlassene und „gewöhnliche“ Probanden (vom Mörder bis zum Schwarzfischer). Als ich das Jusstudium beendet hatte, wurde ich 1981 Richteramtsanwärter und war anschließend von 1984 bis 2018 Richter. In dieser Zeit wurde ich in den Vorstand des „Vereins für Bewährungshilfe und Soziale Arbeit“ und später in den Aufsichtsrat von NEUSTART berufen.
Was bedeutet die Mitgliedschaft bei NEUSTART für Sie persönlich?
Die Zeit als Bewährungshelfer hat mich für mein gesamtes weiteres Leben geprägt. Die dabei gewonnenen Erfahrungen und persönlichen Erkenntnisse durch Kontakte mit den unterschiedlichsten Menschen und ihren Lebensumständen, Supervision und von der Bewährungshilfe bezahlte Schulung in Systemischer Familientherapie, kamen mir in meinen beruflichen (Familienrichter, Zivilrichter, Strafrichter, Justizverwaltungsorgan, Seminarleiter,…) und privaten Lebensbereichen sehr zu Gute. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich hoffe, dass auch in der jetzigen Organisation den einzelnen Mitarbeiter:innen genügend Freiräume für Eigeninitiative und Experimente eingeräumt werden. Ich konnte nämlich nach den Bedürfnissen meiner Probanden selbst entscheiden, wann, wo und wie oft ich sie treffe. Bewährungshilfe sehe ich als Beitrag dazu, dass einerseits Menschen mit schlechten Startmöglichkeiten in ihr Leben Unterstützung bekommen, ihnen also ein bisschen ausgleichende Gerechtigkeit zuteil und anderseits unsere Gesellschaft ein bisschen sicherer wird.
Welche Anekdote, welches prägende Ereignis verbinden Sie mit NEUSTART?
Es gab für mich viele positive und einige sehr negative Erlebnisse als Bewährungshelfer:
Schon im ersten Jahr als Bewährungshelfer erkannte ich, dass manche Proband:innen knapp vor und am 24.12. Straftaten begangen hatten, um verhaftet zu werden, damit sie den Heiligen Abend nicht allein verbringen mussten. Mein Angebot, am 24.12. für einsame und/oder obdachlose Proband:innen eine Weihnachtsveranstaltung zu übernehmen, wurde von der Leitung positiv aufgenommen und finanziell unterstützt. Diese Feier leitete ich bis 1989 (Geburt meines älteren Sohnes), also auch als Richteramtsanwärter und als Richter. Da mich auch Richterkolleg:innen unterstützten, kam es dazu, dass Richter:innen und Staatsanwält:innen gemeinsam mit Vorbestraften Erdäpfel schälten, Obstsalat rührten, Schnitzel panierten. In einem Fall ging der Kontakt auch nach der Feier weiter und eine Probandin erhielt von einer Staatsanwältin regelmäßig Kleidung geschenkt.
Als Richteramtsanwärter organisierte ich für Richteramtsanwärter:innen Vorträge von Psycholog:innen, Psychiater:innen und Soziolog:innen und ein Treffen mit Bewährungshelfer:innen. Mich freut, dass derartige Inhalte in die Richter:innenausbildung aufgenommen wurden.
Besonders großen Spaß hat es mir gemacht, von 1992 bis 2018 viele mehrtägige Seminare über Zivilrecht für Konfliktregler:innen abzuhalten. Dadurch war ich mit langjährigen und neuen Kolleg:innen der Bewährungshilfe in regelmäßigem Kontakt und habe dadurch viel gelernt.
Fordernd war die Tätigkeit im Aufsichtsrat, als wegen großer Spannungen innerhalb des Vereins eine neue Geschäftsführung bestellt werden musste. Dieses Problem konnte zufriedenstellend gelöst werden.
Sehr unangenehm waren zwei Erlebnisse mit einem Probanden, der als Zuhälter arbeitete und mit seiner neuen „Einnahmsquelle“ in die Sprechstunde kam. Er hatte ihr schon auf dem Weg zu mir den Arm gebrochen und begann vor mir, weiter auf sie einzuschlagen. Da kein:e Kolleg:in anwesend war, konnte ich vorerst keine Hilfe (z.B. Polizei) organisieren. Es gelang mir schließlich, die junge Frau samt dem Probanden mit meinem Auto in die Ambulanz der Unfallabteilung des AKH zu bringen. (Tragisches Ende: Sie wurde später vermutlich Opfer eines Serienmörders von Prostituierten.) An einem anderen Tag erklärte er mir bei einem Hausbesuch, dass er „noch heute den XY erschießen muss“. Es gelang mir, dieses Vorhaben zu verhindern und den Revolver mitzunehmen.
Auch als sehr tragisch habe ich in Erinnerung, dass einem meiner Probanden in einem Gasthaus in den Rücken geschossen wurde. Bei meinem Besuch im Spital war er nicht mehr ansprechbar und verstarb wenige Stunden später.