Bitte stell dich kurz vor.
Ich heiße Robert Koch, bin 38 Jahre alt und wohne mit meiner Lebensgefährtin in der Wohnung meines Katers Ruben Albert in St. Pölten.
In welcher NEUSTART Einrichtung und welchem Bereich arbeitest Du?
Ich arbeite bei NEUSTART Niederösterreich in Krems und ich bin in den Gebieten Krems und Tulln sowie im Umland tätig. Zuständig bin ich für die Bereiche Bewährungshilfe, Gewaltpräventionsberatung und den elektronisch überwachten Hausarrest.
Seit wann bist du bei NEUSTART und warum hast du dich für diesen Berufsweg entschieden?
Ich bin seit März 2024 bei NEUSTART. Nach über zwölf Jahren in der niederschwelligen Obdachlosenhilfe war es für mich Zeit, mich an neue Herausforderungen zu wagen.
Was gefällt dir an dieser Arbeit am besten?
In Wahrheit das selbe wie in der Obdachlosenhilfe: Die Entwicklungspotenziale von Klient:innen zu sehen und sie auf ihrem Weg zu einer nachhaltigen Stabilisierung zu begleiten.
Du hast mir vorab erzählt, dass du gerne über das Thema „Sucht“ sprechen möchtest. Wie viele deiner Klient:innen sind davon betroffen und welche substanz- und verhaltensgebundenen Abhängigkeiten begegnen dir am häufigsten?
In etwa ein Drittel meiner Klient:innen ist von einer latenten oder manifesten Suchtthematik betroffen. Sie konsumieren Alkohol, illegale Substanzen und Medikamente, wobei ein kleiner Anteil meiner Klient:innen ein polytoxikomanes Konsumverhalten aufweist.
Welche Besonderheiten und Herausforderungen bringen Suchterkrankungen in der Betreuung mit sich?
Eine Sucht oder Abhängigkeit ist eine Erkrankung. Zugleich führt dieser Konsum jedoch bei unseren Klient:innen zu strafrechtlichen Konsequenzen. Es braucht sowohl die klare Kommunikation über die gesundheitlichen und strafrechtlichen Konsequenzen von Konsum, als andererseits auch die verständnisvolle und wertschätzende Haltung gegenüber Klient:innen und ihren Konsummotiven. Für mich stellt dies ein Spannungsverhältnis dar, dessen wir uns als Professionist:innen immer bewusst sein müssen.
Welchen konkreten Unterstützungsbedarf haben Klient:innen mit einer Suchterkrankung, um nachhaltig straffrei bleiben zu können?
Ich kann es schwer verallgemeinernd beantworten. Manche Klient:innen haben mir in der Obdachlosenhilfe bewiesen, dass sie völlig ohne ambulante oder stationäre Angebote einen Entzug vollzogen haben, stabil abstinent blieben und niemals eine Suchtberatungsstelle von innen sehen mussten. Das scheint mir jedoch die Ausnahme zu sein. In der Regel braucht es Unterstützung von professionellen Organisationen, die eine Suchtberatung oder eine therapeutische Unterstützung anbieten. Je nach Ausprägung des Konsums und der allgemeinen Themenlagen kann auch eine Stabilisierung in den umliegenden Bereichen, wie zum Beispiel der Existenzsicherung, notwendig sein.
Wie erhalten deine Klient:innen diese Unterstützung?
In dem Gebiet, in dem ich Tätig bin, ist die Caritas Suchtberatung hervorzuheben. Aber je nach Region gibt es auch andere professionelle Träger:innen.
Sucht kann ein kriminogener Faktor sein. Woran müssen wir gesamtgesellschaftlich arbeiten, damit Suchterkrankungen seltener zu Delinquenz führen?
Ich denke, es geht um Bewusstseinsbildung bezüglich des Konsums. Wir müssen nicht gleich von einer Suchterkrankung sprechen. Ich möchte hier auf das Korridormodell hinweisen.
Stellen wir uns vor, wir stehen in einem Korridor und es gibt vier Räume, in die wir treten können. Jede:r von uns kann entscheiden, ob sie:er kurz in den „Genussraum“ geht, konstant im „Konsumraum“ bleibt oder im „Missbrauchsraum“ intensiv und exzessiv eine Substanz konsumiert. Wir können uns entscheiden, danach wieder in den konsumfreien Korridor zurückzukehren. Wenn wir allerdings in den „Suchtraum“ gehen, es zu einer Gewohnheit wird, dann wird es deutlich komplizierter. Wir stürzen dann regelrecht in die Sucht und eine Rückkehr in den suchtfreien Korridor wird eine große Herausforderung.
Ohne jetzt auf die rechtlichen Konsequenzen der Sucht einzugehen, Sucht an sich ist nicht per se das Thema bei einer Delinquenz. Wenn aber die Kontrolle über das Konsumverhalten verloren geht – sei es kurz im „Missbrauchsraum“ oder langfristig im „Suchtraum“, dann wird es zum Thema. Und wer zum Beispiel alkoholisiert von einem Heurigenbesuch nach Hause fährt und bei einem Autounfall jemanden verletzt, die:der hat nicht nur die Kontrolle über ihr:sein Fahrzeug, sondern auch über ihren:seinen Konsum verloren. Das heißt jedoch noch nicht, dass die Person süchtig ist oder exzessiver Konsum verwerflich ist. Wenn Delinquenz einen Normbruch darstellt, dann ist, je nach rechtlicher Lage, der Konsum einer Substanz, der strafrechtliche Konsequenzen nach sich zieht, ein Kontrollverlust.
Ich finde, gesamtgesellschaftlich besteht eine geringe Kenntnis über die Entstehung von Sucht, aber auch über den Konsum als Ganzes. Einerseits braucht es Bewusstsein darüber, dass nicht „ein“ Bier, „ein“ Joint oder „eine“ Tablette in die Abgründe des „Suchtraums“ führen. Andererseits ist eine suchtkranke Person in der Regel nicht direkt in diesen „Suchtraum“ gegangen, sondern es wurde die Substanz mal mehr oder weniger intensiv probiert und konsumiert. Es braucht weder Alarmismus, noch Bagatellisierung. Wir, mich eingeschlossen, sollten uns allerdings bewusst sein, was die gesundheitlichen und auch potenziell delinquenten Konsequenzen von Konsum sind.
Welche Reaktionen löst deine Arbeit – allgemein aber auch speziell mit suchtkranken Klient:innen – in deinem privaten Umfeld aus? Sprichst du außerhalb der Arbeit über die Lebenswelten und Herausforderungen, mit denen unsere Klient:innen konfrontiert sind?
In meinem privaten Umfeld ist man gewöhnt, dass ich mit Klient:innen mit diesen Themenlagen arbeite. Spanend finde ich eher im entfernteren Bekanntenkreis Kommentare wie „Na, dann muss er halt mit dem Trinken aufhören“ oder aber auch „Geh, ich trinke ja auch nicht viel, ich hab kein Problem“. Suchterkrankungen werden unterschätzt und dies ist ein gesamtgesellschaftliches Thema. Mir begegnet oft eine Haltung, die impliziert, es sei ja nur „Willenssache“. Wenn es so einfach wäre, bräuchte es keine Entwöhnungseinrichtungen im Gesundheitsbereich.
Besonders das Konzept von „Harm Reduktion“ stößt oft auf Unverständnis. Was bringt es, wenn jemand Heroin „nur“ mehr auf Folie raucht, anstatt sich eine Nadel in den Arm zu stechen, denn es ist ja beides illegal. Oder wenn jemand von Schnaps auf Wein umsteigt? Schädlich mag beides sein, doch der Weg aus der Sucht ist steinig. Es ist bereits ein großer Schritt, Klient:innen bei der Arbeit an ihrer Gesundheit zu unterstützen. Sie zu unterstützen, Motivation für eine andere Lebensweise zu entdecken. Ein konsumreduzierter Tag, oder gar ein konsumfreier Tag, sind Leistungen, die mir Respekt abverlangen.
Wie findest du persönlich Ausgleich zu deinem Job?
Entsprechend dem Korridormodell befinde ich mich nun schon längere Zeit im Gaming-Konsumraum. Derzeit mangelt es mir an der Absichtsbildung, weniger zu zocken, aber immerhin habe ich – aufgrund meines neuen Jobs bei NEUSTART – deutlich mehr konsumfreie Tage. Mein Ergometer und meine Beziehung tragen jedoch, ebenso wie mein Kater, zum Ausgleich bei.
Gibt es sonst noch etwas, das du mit unseren Leser:innen teilen möchtest?
Ich trinke Alkohol, aber ich habe kein Problem.