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NEUSTART Tirol: Interdisziplinäre Tagung „Kinder im Fokus von Gewalt“

Auch dieses Jahr hielt NEUSTART Tirol, gemeinsam mit der Oberstaatsanwaltschaft Innsbruck, der Staatsanwaltschaft Innsbruck und dem Gewaltschutzzentrum einen interdisziplinären Fachtag ab. Ein Nachbericht.

Dieses Jahr wurden zwei thematische Bereiche aufgegriffen, die gleichermaßen wichtig und miteinander verbunden sind: Kinder als Opfer und Kinder als Täter:innen.

Kinder als Opfer von (sexueller) Gewalt

Der Vormittag widmete sich den Kindern als Opfern von (sexueller) Gewalt und ihren besonderen Bedürfnissen, welche durchaus ein Spannungsfeld im Ermittlungs- bzw. Strafverfahren bedeuten können. Mitarbeiter:innen aus dem Bereich des Kinderschutzes gaben nicht nur einen praxisnahen Einblick in ihre Arbeit, sondern erläuterten das Verhalten von traumatisierten Kindern und ihrer möglichen Schutzmechanismen.

Die anschließende Podiumsdiskussion machte sichtbar, vor welchen Herausforderungen Polizei und Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren stehen, wenn Aussagen sehr spät erfolgen bzw. diese aufgrund des Erlebten oder des Alters für die einvernehmende Person wenig kohärent klingen. Erfreulicherweise verfügen immer mehr Polizist:innen über spezielle Schulungen und die Zahl der sogenannten GiP-Beamten (Gewalt in der Privatsphäre) wächst stetig.

Gewaltdelikte: Kinder als Täter:innen

Der Nachmittag widmete sich der Herausforderung im Umgang mit Kindern (zehn bis 14-Jährigen), welche durch massive Gewaltdelikte auffallen. Nachdem die Strafmündigkeit in der Schweiz bei zehn Jahren liegt und diese oft als „Vorbild“ genannt wird, lag es nahe, den leitenden Jugendanwalt der Stadt Zürich, Patrik Killer, einzuladen. Dieser skizzierte das Schweizer System und es zeigte sich schnell, dass das Jugendstrafrecht in der Schweiz vollkommen „Täter:innenorientiert und nicht Tatorientiert“ ist.

So stimmt es zwar, dass die Strafmündigkeit mit zehn Jahren beginnt (früher sogar mit sieben Jahren) aber bis zu einem Alter von 15 Jahren beträgt der maximale Strafrahmen zehn Tage gemeinnützige Arbeit.

Schweiz: treffsichere Maßnahmen für jugendliche Straftäter:innen

Im Zentrum der Reaktion stehen immer die sogenannten „Schutzmaßnahmen“ 1. Diese bestehen aus pädagogische bzw. therapeutischen Maßnahmen. In der Jugendanwaltschaft arbeiten Jugendanwält:innen Hand in Hand mit Sozialarbeiter:innen. Letztere führen eine standardisierte sozialarbeiterische Diagnostik durch. Anhand dieser wird die passendste Reaktion ausgearbeitet. Durch diese Standardisierung ist es gelungen, sehr treffsichere Maßnahmen zu setzen und einen häufigen Wechsel zu vermeiden. Maßnahmen können beispielsweise eine ambulante Begleitung sein aber auch die Unterbringung in einer therapeutischen WG oder einer pädagogischen Einrichtung. Sofern absolut notwendig (weil sonst „eine Erziehung oder Behandlung nicht möglich“ wäre) ist auch die Unterbringung in einer „geschlossenen Einrichtung“ möglich. Es handelt sich hierbei in der Regel nicht um Einrichtungen der Strafjustiz, sondern „normale“ Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe.

Patrik Killer, leitender Jugendanwalt der Stadt Zürich

1 Natürlich werden in der Schweiz, ähnlich wie bei uns im JGG vorgesehen, eine Vielzahl von Verfahren reaktionslos eingestellt bzw. mit einem Verweis beendet. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf jene Kinder/Jugendliche die schwere Gewaltdelikte verübt haben.

Es soll eben gerade nicht dazu kommen, dass Straffällige abgesondert werden, da zu befürchten ist, dass sie sich dann negativ beeinflussen. Eine Ausnahme sind spezielle forensisch-psychiatrische Einrichtungen für Jugendliche. Anzumerken ist, dass Unterbringungen dieser Art auch nur wenige Tage dauern können. Sie sind jedenfalls so kurz als möglich zu halten und absolute Ultima Ratio. In den letzten Jahren waren zwischen keinem und vier unter 14-Jährige untergebracht. Im Jahr 2022 hat es einen unerwarteten Anstieg auf zwölf Kinder gegeben, die „untergebracht“ waren. Allerdings handelt es sich hierbei auch um Unterbringungen in offenen pädagogischen Einrichtungen oder bei Pflegefamilien. Diese Art der Unterbringung wird bei uns in Österreich von Seiten der Kinder- und Jugendhilfe/Pflegschaftsgericht veranlasst. Dies relativiert die Zahl natürlich erheblich.

Betonen möchte ich noch einmal, dass das Kind bzw. der Jugendliche im Vordergrund steht und nicht die Straftat. Dass ein:e Jugendliche:r laufend Straftaten begeht (Diebstähle, Einbrüche etc.) rechtfertigt nicht automatisch eine „schärfere“ Schutzmaßnahme, wie beispielsweise eine stationäre Unterbringung.

Eine Frage der Haltung

Ich möchte auf zwei – scheinbar semantische – Unterschiede eingehen, die meines Erachtens aber viel über die Haltung und Ausrichtung des Schweizer Jugendstrafrechts aussagen:

Das Schweizer Jugendstrafrecht spricht von „Schutzmaßnahmen“ und die Staatsanwaltschaft heißt „Jugendanwaltschaft“. Meines Erachtens sagt Letzteres bereits aus, dass der Staatsanwalt auch Anwalt der:des Jugendlichen ist (selbstverständlich haben Jugendliche auch Schutz durch parteiliche Rechtsanwält:innen). Natürlich haben auch Jugendanwält:innen neutral den Sachverhalt festzustellen. In ihren Entscheidungen über die Reaktion haben sie jedoch in erster Linie zum Wohle der:des Jugendlichen zu handeln. Auch die Bezeichnung „Schutzmaßnahmen“ drückt ein anderes Selbstverständnis aus. Wenn wir im Kontext des Strafrechtes von „Schutzmaßnahmen“ sprechen, assoziieren wohl die meisten Schutzmaßnahmen für das Opfer. Das Schweizer Jugendstrafrecht macht sich zur Aufgabe den:die Jugendliche:n davor „zu schützen“, sich selber durch weitere (schwere) Straftaten zu schädigen bzw. Schutz zu bekommen, um sich entwickeln zu können. Aus meiner Sicht geht das Schweizer Jugendstrafrecht hier wesentlich weiter als unser österreichisches, welches ja auch den Erziehungsgedanken in den Vordergrund stellt. Der Jugendanwalt hat eine fast „pflegschaftsgerichtliche“ Rolle2.

Von jenen, die eine Senkung der Strafmündigkeit fordern, wird die Schweiz oft als Vorbild genannt. Ich hoffe, dieser kurze Einblick hat deutlich gemacht, dass die Schweiz keineswegs früher oder härter bestraft als das österreichische JGG. Dadurch, dass bis zum 15. Lebensjahr nur maximal zehn Tage Arbeit als Strafe verhängt werden können (für über 16-Jährige sind maximal vier Jahre Freiheitsentzug möglich), straft die Schweiz genaugenommen deutlich später und milder als das öJGG.

Natürlich sind Maßnahmen wie eine Unterbringung in einer therapeutischen Einrichtung auch sehr weitgehend und können als Strafe interpretiert werden. Zumal ja die Dauer unabhängig von der Straftat ist und somit länger sein kann, als eine angemessene Strafe). Diese Maßnahmen ähneln jedoch eher unseren Fremdunterbringungen durch die Kinder- und Jugendhilfe.

Ein Vorbild ist die Schweiz meines Erachtens in Hinblick auf die Vielzahl an unterschiedlichen Einrichtungen und die größeren Handlungsmöglichkeiten. Hierfür braucht es aber keine Senkung der Strafmündigkeit, sondern dies ließe sich über die Kinder- und Jugendhilfe und entsprechende Pflegschaftsverfahren verbessern. In Österreich wäre absehbar, dass eine Senkung der Strafmündigkeit nur dazu führen würde, dass 12-Jährige in Untersuchungs- oder Strafhaft landen.

2 Eine Überprüfung durch Gerichte gibt es in diesen Fällen auch.

Über die/den Autor:in

Leitung NEUSTART Tirol

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