Daniel Schmitzberger ist Richter in Wien und Vorsitzender der Fachgruppe Jugendstrafrecht der Richter:innenvereinigung
Herr Schmitzberger, schlägt man die Zeitungen auf, bekommt man den Eindruck, Jugendkriminalität explodiere. Ist dem so?
Keineswegs. Was wir schon beobachten ist, dass mehr angezeigt wird. Was früher in der Familie oder im Freundeskreis geklärt wurde, wird heute angezeigt. Das liegt auch daran, dass Jugendliche teurere Wertgegenstände besitzen. Wird ein Handy im Wert von 1.000 Euro gestohlen, wird das natürlich angezeigt.
Durch technische Innovationen gibt es auch neue Delikte wie etwa Cybermobbing…
Nicht nur das. Taten werden auch nachvollziehbar. Wenn sich Jugendliche in sozialen Medien in ein bestimmtes Licht rücken, führt das dazu, dass wir im Verfahren Beweise in Form von Videos oder Fotos haben. Dennoch denke ich nicht, dass es bei der Intensität von Taten eine große Änderung gab. Neue Medien kommen immer wieder auf. Die Ursprünge von Kriminalität bleiben die gleichen.
Und zwar?
Meist sind es Brüche in der sozialen Biografie, ökonomische Probleme, schwierige Familienverhältnisse. Oft sind die Eltern bei den Gerichtsverhandlungen nicht dabei. Das ist schon ein Anzeichen dafür, dass es große Probleme gibt. Man muss bei sozialen Problemen ansetzen, um Jugendkriminalität zu verhindern. Das ist besser als jede Reaktion im Nachhinein.
Diese Reaktion auf Kriminalität braucht es allerdings auch.
Selbstverständlich. Aber wenn ein Jugendlicher vor dem Strafrichter sitzt, ist zuvor schon sehr viel passiert: im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, vielleicht hat die Staatsanwaltschaft zuvor schon Verfahren diversioniert oder eingestellt. Kommt es zu einer Verhandlung, ist es Aufgabe des Gerichts, die richtigen Auflagen zu finden, also Bewährungshilfe anzuordnen, eine Therapie, oder andere Maßnahmen – je nach Einzelfall.
Was kann die Bewährungshilfe dazu beitragen, dass ein: Jugendliche:r nicht mehr straffällig wird?
Sehr viel. Sie ist jene Schaltstelle, die im sozialen Bereich unterstützt, sie hilft ein straffreies Leben zu gestalten und Weisungen einzuhalten. Bewährungshilfe ist bei fast jedem Jugendlichen und jungem Erwachsenen geboten.
Wie unterscheidet sich Ihre Arbeit von der Ihren Kolleg:innen, die mit Erwachsenen zu tun haben?
Wir werden von der Jugendgerichtshilfe unterstützt. Das heißt, dass Sozialarbeiterinnen den Hintergrund eines Täters erheben. Das Strafverfahren selbst ist ja sehr formell. Das ist auch wichtig, weil wir in letzter Konsequenz ein wesentliches Grundrecht einschränken können – die persönliche Freiheit. In diesem Setting können wir nicht die Hintergründe eines Täters erheben. Die Arbeit der Jugendgerichtshilfe ist deshalb wichtig für uns, um die passende Reaktion zu finden.
Sie haben den Freiheitsentzug angesprochen. Ist Gefängnis die richtige Reaktion auf straffällige Jugendliche?
Nein. Das Gefängnis ist ein schlechter Ort für Jugendliche. Sie befinden sich in der Entwicklung und müssen lernen, sich in der sozialen Wirklichkeit zurecht zu finden. Im Gefängnis lernt man nicht, wie es in der Gesellschaft zugeht, sondern wie es im Gefängnis zugeht. Jugendliche sollten in unseren Justizanstalten nicht mehr vorkommen. Bei manchen ist ein Freiheitsentzug unumgänglich. Nur sollte der in einem anderen Setting stattfinden.
In welchem?
In der Schweiz beispielsweise kann das Gericht die Unterbringung in Wohngruppen anordnen, auch in geschlossene Einrichtungen. Das ist zwar kein Gefängnis im herkömmlichen Sinn, aber die Türen sind versperrt. Solche Wohngruppen sind besser als Gefängnisse, allerdings muss es unser Ziel sein, dass es gar nicht zu einem Freiheitsentzug kommt. Dafür braucht es mehr Mittel für die Kinder- und Jugendhilfe und die Jugendpsychiatrie. Beides ist chronisch unterfinanziert.
Manche fordern ganz andere Lösungen. Zum Beispiel ein Senken der Strafmündigkeit oder härtere Strafen. Wäre das sinnvoll?
Nein. Dann hätten wir nur mehr Kinder und Jugendliche im formalen Strafverfahren. Die Ressourcen dafür wären bei der Kinder- und Jugendhilfe viel besser aufgehoben. Und die Höhe der Strafe schreckt niemanden ab.
Beschäftigt Sie das Schicksal der Jugendlichen, die Ihnen im Verfahren gegenüber sitzen auch persönlich?
Durchaus. Ich habe kein Mitleid – also ich leide nicht mit – , aber Mitgefühl mit ihnen. Es ist wichtig, das nicht auszublenden. Was mich immer beschäftigt ist, welch große Potenziale verloren gehen. Sinn des Jugendstrafrechts ist es auch, dieses Potenzial wieder für die Gesellschaft nutzbar zu machen.