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Studienbesuch in Belgien: Restorative Justice ist mehr als Tatausgleich

Europarat, UNO und jetzt auch europäische Justizminister:innen empfehlen in der sogenannten „Venedig-Erklärung“ vom Dezember 2021, dass Restorative Justice (RJ), also Wiedergutmachende Justiz, im gesamten Strafverfahren zur Anwendung kommen soll.

In Österreich ist als RJ-Maßnahme gesetzlich im Rahmen der Diversion, also bei mittelschweren Delikten anstatt einer Gerichtsverhandlung, bislang nur der Tatausgleich vorgesehen. Die Möglichkeit eines professionell begleiteten Täter-Opfer-Dialogs bei allen Straftaten ist in Österreich derzeit nicht vorgesehen.

Restorative Justice über die Diversion hinaus – Recht auf alternative Konfliktlösung

Im Rahmen der Bemühungen von NEUSTART, in Österreich diesbezügliche Überlegungen zu initiieren wurden wir zu einem Studienbesuch in Leuven/Belgien eingeladen, wo RJ wesentlich umfassender zur Anwendung kommt. Die dortige Universität ist auch eine zentrale Drehscheibe und Sitz des European Forum for Restorative Justice. Organisiert wurde der Besuch vom ehemaligen Vorstandsvorsitzenden des Forums, Prof. Ivo Aertsen. Eingeladen war auch eine Delegation der kubanischen Rechtsanwaltskammer, da RJ in Kuba eingeführt werden soll und dabei Belgien als gutes Beispiel ausgewählt wurde. In der kubanischen Verfassung ist seit 2019 verankert, dass jede:r Bürger:in das Recht auf alternative Konfliktlösung hat.

Belgien: Restorative Justice bringt Mehrwert für Opfer und Täter

Bereits seit 2005 gibt es im belgischen Strafgesetz eine Bestimmung, dass auf Wunsch der Beteiligten am Strafverfahren ein Mediationsprozess in jedem Verfahrensstadium gestartet werden kann. Keine Straftaten sind ausgeschlossen. Staatsanwaltschaften und Gerichte sind gesetzlich verpflichtet, die Beteiligten über die Möglichkeit der Mediation zu informieren. Die Erfahrung der Kolleg:innen aus Belgien ist eindeutig: Je schwerwiegender die Folgen einer Straftat sind, desto größer ist auch das Bedürfnis der Beteiligten zum Dialog oder Mediation. Der professionell begleitete Dialog zwischen Täter und Opfer findet parallel zum Strafverfahren statt, das Ergebnis muss nicht Berücksichtigung im Strafverfahren finden. Oft geht es weniger um den Schaden, sondern mehr um den emotionalen Teil des Problems. Gerade bei Fällen mit schwerwiegenden Folgen zeigt die belgische Praxis, dass ein Täter-Opfer-Dialog wertvoll für alle Beteiligten sein kann. Selbst bei Mordfällen ist im Gefängnis ein Dialog zwischen Angehörigen von Opfern und Tätern möglich. „Wenn wir wollen, dass sie Verantwortung übernehmen, müssen wir ihnen eine Stimme geben“ – das ist einer der Gründe, warum dieses Modell gut funktioniert. Vor allem Opfer – die Teilnahme ist immer freiwillig! – berichten, dass sie nach einem Restorative Justice Prozess besser mit ihrer Situation umgehen können. Eine Kollegin berichtete von einem drastischen Fall der Schwester eines Mordopfers: „Ich hasse ihn noch immer, aber jetzt, wo ich ihm das sagen konnte, geht es mir besser.“

Leuven Restorative City: Wir brauchen Wege, um Vertrauen zu schaffen und nicht um Gräben zu vertiefen

Restorative Justice wird in Belgien weiter gedacht als nur bei Straftaten: Der Bürgermeister von Leuven, Mohamed Ridouani macht beim Besuch im Stadtamt klar: In einer Gesellschaft, die immer mehr vereinzelt, können nur neue soziale Bindungen und der Weg der (Wieder-) Herstellung intakter sozialer Gefüge davor schützen, dass Individualisierung zur Zersplitterung der Gesellschaft führt.

Katholische Universität Leuven, Sitz des European Forum for Restorative Justice

Dementsprechend deklariert sich Leuven als Restorative City: Eine Stadt, in der alternative Konfliktlösung und Dialog bereits seit 2008 im Alltag gezielt eingesetzt werden. Organisationen und Personen, die mit Konflikten konfrontiert sind, finden in diesem Netzwerk Möglichkeiten und koordinieren sich, um gemeinsam mit betroffenen Bürger:innen konstruktive und Beziehungen (wieder-)herstellende – also restorative – Lösungen zu entwickeln.

NACHBARSCHAFTSMEDIATION ALS SERVICE DER STADT

Ein Projekt bietet beispielsweise kostenfrei Nachbarschaftsmediation an. Es arbeiten immer ein Mediator:innen-Paar, nämlich ein Profi und ein:e Ehrenamtliche:r, zusammen. Nachbar:innen oder die Polizei kontaktieren aktiv das Projekt und setzen damit den Dialogprozess in Gang.
Es gibt Einzel-Erstkontakte mit den Parteien, um zu informieren und die Voraussetzungen zu klären: Was ist Mediation? Was erwarten sich die Parteien? Was ist in einer Mediation möglich? Mediation bietet einen professionellen und sicheren Rahmen für Gespräche und gemeinsame Problemlösungen, die offenbar ohne diesen Rahmen nicht zustande kommen.
Die Mediator:innen sind allparteilich und beurteilen nicht – sie unterstützen die Beteiligten bei der Lösungsfindung und achten auf die Einhaltung von Spielregeln. Die Teilnahme ist für jede:n Beteiligte:n jederzeit freiwillig und vertraulich.

ÖSTERREICH: RESTORATIVE JUSTICE AUCH BEI SCHWEREN DELIKTEN MÖGLICH?

Österreich war bis zum Jahr 2000 in Sachen Restorative Justice mit dem Tatausgleich und dessen gesetzlicher Verankerung im Diversionsgesetz Vorreiter in Europa. Der Tatausgleich ist in der Rechtsanwendung heute gut etabliert. Die belgische Erfahrung zeigt uns deutlich, dass gerade auch Opfer von schweren Delikten Bedarf nach einem Täter-Opfer-Dialog haben. Das belgische Strafrechtssystem bietet diese Möglichkeit in allen Phasen des Verfahrens für alle Beteiligten unabhängig von der Schwere der Straftat an – mit Erfolg.

Die Erfahrungen mit dem Tatausgleich legen nahe, dass die Ausweitung des Angebotes der Justiz um Restorative Justice in allen Phasen des Strafverfahrens auch in Österreich von Bürger:innen sehr positiv aufgenommen würde. Wie Untersuchungen zeigen, schätzen Opfer von Straftaten diese Möglichkeit ganz besonders. Sie werden mit ihren Interessen und Bedürfnissen ernst genommen und können an der Klärung und Verbesserung von oft schwerwiegenden Folgen einer Straftat direkt mitwirken.

Prof. Ivo Aertsen erklärt den Besucher:innen die RJ-Landschaft in Belgien
Über die/den Autor:in

Leitung NEUSTART Zentralbereich Sozialarbeit

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